Wiener Kongress

18. September 1814 bis 9. Juni 1815

Wiener Kongress. Der Schlussartikel des ersten Pariser Friedens vom 30. Mai 1814 bestimmte, dass alle am Kriege gegen Napoleon I. beteiligten Mächte binnen zwei Monaten zur Ordnung der Verhältnisse Europas Abgesandte nach Wien schicken sollten; doch wurde der Anfang des Kongresses bis 1. Oktober 1814 verschoben. Mitte September kamen die Monarchen von Russland, Preußen, Dänemark, Bayern, Württemberg und Baden mit Gefolge als Gäste des Kaisers Franz I. nach Wien. Die Hauptvertreter waren: für Österreich Fürst Metternich, für Russland Graf Nesselrode, für England Lord Castlereagh, später Wellington, für Preußen Fürst Hardenberg und Wilhelm v. Humboldt, für Frankreich Fürst Talleyrand. Auch die übrigen deutschen Höfe, die vormals souveränen Städte, die Schweiz, viele mediatisierten Häuser und die anderen europäischen Staaten hatten Vertreter entsandt, so dass sich die Zahl der Diplomaten auf einige hundert belief. Glänzende Feste, dramatische und militärische Schauspiele u. dgl. halfen die mangelnde Einigkeit unter den ehedem verbündeten Mächten zu verhüllen. Die wichtigsten Aufgaben waren: 1) der Wiederaufbau eines europäischen Staatensystems mit Herstellung des politischen Gleichgewichts und 2) die Neuordnung der inneren Verhältnisse Deutschlands.

Im September beschlossen die Bevollmächtigten von Österreich, Russland, Preußen und England, dass ein Ausschuss für die europäischen Angelegenheiten, ein zweiter für die Konstituierung des Deutschen Bundes, besondere Komitees für die Neuordnung der Schweiz, für die Regelung der Binnenschiffahrt etc. gebildet werden sollten. Talleyrand aber setzte einen Generalausschuss durch, in den außer den vier Mächten noch Spanien, Portugal, Schweden und Frankreich eintraten. Jedes Ausschussmitglied sollte gleiches Recht und eine Stimme haben; an die Stelle der Rangordnung sollte das französische Alphabet treten und demnach Österreich (Autriche) in der Person Metternichs den Vorsitz führen. Eine förmliche Eröffnung des Kongresses, wofür man den 2. November in Aussicht nahm, hat nie stattgefunden. Das lag zunächst an der polnischen Frage. Alexander I. forderte hartnäckig, das ganze Herzogtum Warschau seinem Reich einzuverleiben, wogegen sich anfänglich nicht nur Österreich und England, sondern auch Preußen erklärten, dem von den beiden ersteren als Lohn für seinen Widerstand gegen Russlands Übergewicht ganz Sachsen in Aussicht gestellt worden war. Friedrich Wilhelm III. wies 5. November seinen Kanzler an, sich in der polnischen Sache von Österreich und England zugunsten Russlands zu trennen; darum schlossen Großbritannien und Österreich mit Frankreich, das den Zwist geschickt für sich ausnutzte, 3. Januar 1815 ein geheimes Schutzbündnis.

In der deutschen Verfassungsangelegenheit war ursprünglich eine auf die einige Vormacht der beiden deutschen Großstaaten begründete feste Konstruktion für Deutschland geplant gewesen, welche die anderen Bundesglieder in ihrer Geltung nach außen beschränkt hätte. Aber seit November suchte Metternich bei den Mittelstaaten (Bayern u. a.) Unterstützung, die nur für das Zugeständnis voller Souveränität zu gewinnen waren. Preußen musste den selben Weg gehen, der schließlich bei der Gleichwertigkeit jedes einzelnen Bundesstaats und dessen Befugnis, selbständig Verträge mit dem Ausland zu schließen, nach außen hin eine ebenso schwächliche wie im Innern lockere Verfassung ergab, wie sie endlich in der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 festgelegt wurde. Inzwischen hatten sich die Großmächte im Februar in der polnischen und sächsischen Frage verglichen, indem sie das Herzogtum Warschau dermaßen teilten, dass der Posener Kreis und Thorn an Preußen, der Tarnopoler und die Salzwerke von Wieliczka an Österreich fielen und Krakau zum Freistaat erklärt wurde (Verträge zwischen Österreich, Preußen und Russland vom 3. Mai 1815), so dass Preußen sich mit dem nördlichen, dünner bevölkerten Teil von Sachsen (850.000 Einwohner) mit den Elbfestungen Torgau und Wittenberg begnügen konnte, den Rest aber als Königreich den Wettinern überließ, wozu König Friedrich August erst nach hartnäckiger Weigerung seine Zustimmung gab (Vertrag vom 18. Mai 1815).

Die Angelegenheiten des Kongresses nahmen einen rascheren Gang, als durch Napoleons Rückkehr Talleyrands verderblicher Einfluss eingeschränkt wurde. Preußen erhielt außer Großpolen und dem sächsischen Landesteil als Entschädigung für die Abtretung Ostfrieslands, Hildesheims etc. an Hannover, Ansbachs und Bayreuths an Bayern, Lauenburgs an Dänemark: Kleve, Berg, den größeren Teil des linken Rheinufers bis an die Saar und Schwedisch-Pommern, so dass es im Vergleich mit dem Bestand von 1805 33.000 km² verlor und etwa ½ Mill. Einwohner gewann.

England bewirkte, um die eroberten holländischen Kolonien behalten zu können und auf dem Festland einen Stützpunkt zu haben, die Vereinigung Hollands und Belgiens zu einem Königreiche der Niederlande unter dem Hause Oranien. Als Ersatz für seine nassauischen Besitzungen bekam der neue König das Großherzogtum Luxemburg und wurde dadurch Mitglied des Deutschen Bundes. England erhielt außerdem Malta und die Schutzherrschaft über die Ionischen Inseln. Dänemark, das 1813 an England Helgoland, an Schweden aber gegen die Zusicherung von Schwedisch-Pommern Norwegen abgetreten hatte, musste Schwedisch-Pommern und Rügen für Lauenburg und 2 Mill. Taler an Preußen überlassen. Schweden erhielt als Entschädigung für Finnland und Schwedisch-Pommern die Anerkennung des Besitzes von Norwegen.

In der Schweiz wurde die Mediationsakte von 1803 aufgehoben und ein Bund von 22 Kantonen gebildet, dessen Neutralität man garantierte. In Italien nahm der Erzherzog Ferdinand das Großherzogtum Toskana wieder in Besitz und erhielt dazu Piombino und Elba, trat jedoch Lucca dem spanischen Infanten Karl Ludwig ab, bis Parma erledigt wäre. Die Verbündeten hatten zwar im Vertrag vom 11. April 1814, der den Besitzstand des Hauses Bonaparte regelte, der Gemahlin Napoleons, der Erzherzogin Maria Luise, das Herzogtum Parma als erbliches Fürstentum zugesprochen; es ward ihr aber jetzt nur auf Lebenszeit überwiesen, so dass es nach ihrem Tod an die spanischen Bourbonen gelangen sollte. Modena bekam Herzog Franz von Este zurück; Genua ward mit dem wiederhergestellten Königreich Sardinien vereinigt.

Angesichts der Bemühungen Talleyrands, Murat aus Neapel zu vertreiben und Ferdinand IV. von Sizilien wieder einzusetzen, gab Österreich nach, da Murat nach der Rückkehr Napoleons sich für ihn entschied; im Kampfe besiegt, musste er Neapel den Bourbonen zurückgeben. Der Kirchenstaat wurde im früheren Umfange wiederhergestellt; nur behielt Österreich den Teil Ferraras am linken Po-Ufer und das Besatzungsrecht der Plätze Ferrara und Comacchio. Österreich selbst erhielt in Italien die Lombardei und Venetien nebst Friaul, Istrien und Dalmatien; auch wurden ihm Tirol und Vorarlberg, Salzburg und die erwähnten Teile von Galizien zurückgegeben.

Wiewohl Napoleon I. im Vertrag vom 11. April 1814 den ungestörten Besitz der Insel Elba zugesichert erhalten hatte, erwog man doch bereits dessen Versetzung in eine ferne Zone. Da traf 6. März 1815 in Wien die Kunde ein, Napoleon habe Elba verlassen, und schon am 8. brachte ein Kurier aus Sardinien die Nachricht, er sei an der Küste der Provence gelandet. Trotz der Bestürzung fasste man nicht nur den Beschluss, die Verhandlungen fortzuführen, sondern die acht Mächte erklärten auch auf Alexanders I. Antrag 13. März, dass der Vertrag vom 11. April 1814 gelöst sei und Napoleon durch abermalige Störung des europäischen Friedens den Schutz der Gesetze verwirkt habe. Am 25. März erneuerten Österreich, England, Russland und Preußen einen im März 1814 zu Chaumont unterzeichneten Allianztraktat, dem jetzt auf ihre Einladung auch die Bourbonen und alle übrigen Fürsten und Staaten beitraten.

Während eine besondere Kommission den Kampf vorbereitete, beeilten sich die Diplomaten, die Verhandlungen zu beenden. Im Drange der Umstände kamen auch die deutschen Angelegenheiten zu dem bereits erwähnten Abschluss. Alle die Entschädigungen, Ausgleichungen und Territorialverhältnisse der einzelnen deutschen Staaten (s. Deutschland), Hannovers, das Königreich wurde, Bayerns, Württembergs, Badens etc., gelangten freilich nicht zur völligen Abfertigung. Deshalb wurde aus den Bevollmächtigten Österreichs, Preußens, Russlands und Englands in Frankfurt eine Territorialkommission gebildet, die erst durch den Rezess vom 20. Juli 1819 die Ordnung der Gebietsverhältnisse vollendete; wichtig war namentlich die Anerkennung und Abrundung der großen Mittelstaaten in Süd- und Mitteldeutschland.

Die Entscheidung über die Stellung der Mediatisierten behielt der Kongress meist den beteiligten Souveränen und dem Deutschen Bunde vor. An diese letzten Verhandlungen schlossen sich auch die Arbeiten über den Flussverkehr, der in ganz Europa für frei erklärt wurde; die Uferstaaten sollten sich über die Rechtsverhältnisse, die Strompolizei u. dgl. untereinander einigen. Dann wurden auch Rang und Titulatur der Diplomaten (Botschafter, Gesandter, chargé d’affaires) geregelt. Endlich ward auf Betreiben des englischen Philanthropen Wilberforce der gute Wille der Kongressmächte in einer Erklärung vom 8. Februar 1815 gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel zum Ausdruck gebracht. Alle diese Beschlüsse wurden in 121 Artikeln redigiert und als Wiener Kongress- oder Schlussakte von den Vertretern Englands, Russlands, Österreichs, Preußens, Frankreichs, Schwedens und Portugals 9. Juni 1815 unterzeichnet.

Die Artikel 15-64 betrafen lediglich Deutschland und bezogen sich hauptsächlich auf dessen neue territoriale Gestaltung. Außerdem wurde darin die Deutsche Bundesakte mit ihren Verheißungen, die Verfassung und Verwaltung des Königreichs Polen, das Gebiet, die Freiheit und Neutralität des Staates Krakau gewährleistet. Spaniens Vertreter Labrador unterschrieb die Schlussakte nicht, weil der Kongress von Spanien die Rückgabe der Festung Olivenza an Portugal gefordert und in Italien bezüglich Parmas die Wünsche des Madrider Hofes unerfüllt gelassen hatte. Auch der Papst protestierte gegen die Beschlüsse, weil sie ihm Avignon und jenen Landstrich von Ferrara absprachen, den sich Österreich vorbehielt. An den Kongress reihten sich der Sieg der Verbündeten bei Waterloo und der zweite Pariser Friede vom 20. November 1815, der die Schlussakte schon insofern veränderte, als Frankreich Savoyen, Landau und das Saargebiet darin abtrat.

Was den politischen Wert der Leistungen des Wiener Kongresses anlangt, so ist das Ergebnis in Anbetracht der zahllosen entgegengesetzten Ansprüche und der kurzen Zeit bedeutend. Freilich haben seine Teilnehmer mehr im Interesse der Dynastien als dem der Völker gearbeitet. England ward durch den Kongress übermächtig zur See, Russland zu Lande; die Neuordnung der Verhältnisse in Italien und in Deutschland war nicht zufriedenstellend. Namentlich das deutsche und preußische Volk, das auf konstitutionelle Freiheiten im Innern und geeinte nationale Kraft nach außen gehofft hatte, sah sich um diesen Preis seiner Aufopferung betrogen. Die Missstände der türkischen Herrschaft auf der Balkanhalbinsel ließ der Wiener Kongress unberücksichtigt. Die wichtigsten politischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts betrafen daher Änderungen der Beschlüsse des Kongresses.

Bibliographie

  • »Corrispondenza dei Cardinali Consalvi e Pacca nel tempo del Congresso di Vienna 1814–1815« (hrsg. von Rinieri, Turin 1903)
  • Angeberg, Comte: Le Congrès de Vienne et les traités de 1815 (Paris 1864, 4 Bde.)
  • Duncker: Der Freiherr vom Stein und die deutsche Frage auf dem Wiener Kongress (Berlin 1873)
  • Flassan, Histoire du Congrès de Vienne (Paris 1829; deutsch, Leipzig 1830, 2 Bde.)
  • Fournier: Zur Geschichte der polnischen Frage 1814 und 1815 (in den »Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung«, Bd. 20)
  • Fournier: Neue Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses (in der »Österreichischen Rundschau«, 1903)
  • Klüber: Akten des Wiener Kongresses in den Jahren 1814 und 1815 (Erlangen 1815–35, 9 Bde.)
  • Klüber: Übersicht der diplomatischen Verhandlungen des Wiener Kongresses (Erlangen 1816)
  • Lagarde: Fêtes et souvenirs du Congrès de Vienne (Paris 1843, 2 Bde.)
  • Maresca: Murat e il Congresso di Vienna (Neapel 1882)
  • Martens: Recueil des traités et conventions conclus par la Russie avec les puissances étrangères (Petersburg 1874–1902, Bd. 1–13)
  • Polovtzoff: Correspondance diplomatique des ambassadeurs et ministres de Russie en France et de France en Russie 1814–1816 (Paris 1902)
  • Rinieri: Il Congresso di Vienna e la Santa Sede (Rom 1904)
  • Schmidt, W. A.: Geschichte der deutschen Verfassungsfrage während der Befreiungskriege und des Wiener Kongresses (Stuttgart 1890)
  • Treitschke: Preußen auf dem Wiener Kongress (in den »Preußischen Jahrbüchern«, Bd. 37)

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909

Feldzüge der Napoleonischen Kriege, 1805–1815