Rückzug

Rückzug.

Rückzug, begreift eine jede rückwärts gehende Bewegung, sie sei durch den Angriff eines überlegenen Feindes, oder durch andere Umstände veranlasst, also vorher überlegt. In beiden Fällen ist es vorzüglich nötig, dass man eine genaue Kenntnis des Landes besitze, durch welches man sich zu ziehen im Begriff steht, um schon vorher zu wissen, welche Truppenarten man am vorteilhaftesten wird brauchen können, das Ganze zu decken, und um schon im Voraus die Positionen zu bestimmen, die man etwa nehmen könnte. Ein guter Rückzug bleibt aber immer eine der schwierigsten Kriegsoperationen, und das Talent des Feldherrn oder kommandierenden Offiziers zeigt sich hier in seiner ganzen Größe.

Am schwierigsten bleibt der Rückzug nach einer verlorenen Schlacht, oder während des Treffens selbst, wo man die Unmöglichkeit, dem Feinde länger Widerstand zu leisten, einsieht, und daher das Gefecht abzubrechen sucht. Hat man jedoch vor dem Anfang der Schlacht schon alle Maßregeln getroffen, und alle möglich Rücksichten genommen, so wird wenigstens ein solcher Rückzug nie in ein Weglaufen vom Schlachtfeld ausarten.

Man kann bei diesen Rückzügen zwei Perioden unterscheiden. Die erste begreift die rückgängige Bewegung der Armee, unmittelbar von dem Schlachtfeld, bis an den Punkt, wo man sich mir Ruhe und Sicherheit aus der Schlachtordnung wieder in die Marschlinie zusammenzufalten denkt, und wozu man deshalb vorher schon eine gute Stellung ausgesucht haben muss; denn es leuchtet ein, dass man in der Nähe des Feindes sich nicht in Marschkolonnen wird setzen können, so wenig, als man im Stande ist, sich während des Marsches zu schlagen. Die zweite Periode begreift das Zusammenfalten selbst, und die weitere Fortsetzung des Rückzuges in Marschkolonnen.

Da nach der heutigen Art der Kriegführung die Entscheidung der Schlachten gewöhnlich gegen die Zeit des Untergangs der Sonne eintritt, so hat das sich zurückziehende Heer nur noch eine, höchstens zwei Stunden vor sich, um die Stellung zu erreichen, nach welcher es sich fechtend zurückziehen will, und welche ihm Sicherheit zum Zusammenfalten seiner Kolonnen gewähren soll. Ungefähr in dieser Entfernung muss auch die Stellung liegen; denn näher würde der nachdringende Feind dem geschlagenen Heer keine Zeit zur Aufstellung gönnen.

Sich im Voraus dieser Stellung zu versichern, wird nun der erste Schritt des Rückzuges sein müssen; daher werden die Reserven, gleichviel ob sie bereits geschlagen haben oder nicht, oder ob sie aus Truppen gebildet sind, die aus dem Gefecht gezogen wurden, zuerst nach der neuen Stellung marschieren, und diese besetzen, wohin sie von einigen schweren Batterien begleitet werden. Während dies geschieht, breitet sich die Kavallerie in zwei Treffen auf dem Schlachtfeld aus, um die leichten Truppen des Siegers aufzuhalten, den Marsch seiner Kolonnen zu verzögern, und Zeit zu gewinnen, bis die Nacht hereinbricht. Die Reserveparks, das Fuhrwerk und die Verwundeten setzen sich zu gleicher Zeit in Marsch, unter Begleitung einiger leichter Infanterie und Kavallerie, welche die Avantgarde macht. Der im Gefecht bleibende Teil der Armee schlägt sich von Stellung zu Stellung, gewöhnlich schachbrettförmig zurückgehend, so lange der Tag dauert, und sucht so wenig Boden als möglich zu verlieren; er benutzt endlich die Schatten der Nacht, sich zu sammeln, in Kolonne zu setzen, und hinter die Stellung zurückzugehen, wo die bereits formierte Reserve jeden Angriff zurückweiset, wenn die Finsternis dem Gefecht noch nicht ein Ende machen sollte. Wurde die Stellung gut gewählt, und findet der Feind hier planmäßige Widerstand, so wird er gewiss am nämlichen Abend nichts ernstliches mehr unternehmen. So weit die erste Periode des Rückzuges.

Um Mitternacht tritt nun gewöhnlich die zweite Periode ein, indem sich alles in Marsch setzt, wobei die Hauptsorge sein muss, die ganze Armee zwar nicht auf einer Straße marschieren zu lassen, weil dies die Linie zu sehr verlängern würde; doch aber sie so viel als möglich zusammenzuhalten. Die Rückzugslinien der Armee müssten daher so viel als möglich unter sich parallel sein, zugleich nicht zu weit entfernt von einander laufen, wodurch die Möglichkeit verloren ginge, dass die einzelnen Kolonnen sich untereinander unterstützen könnten, sobald der Feind sich zwischen sie eindrängen wollte. Da aber eine solche Anordnung höchst selten, ja fast niemals, durch die Örtlichkeit des Terrains begünstigt wird, so ist doch wenigstens so viel es angeht nach der Erreichung dieses Vorbildes zu streben, und daher hauptsächlich dahin zu wirken, dass alle einzelnen Rückzugslinien wieder in den Punkt zusammenfallen, wo die Armee neuen Verstärkungen erwartet, wo sie Stand zu halten, und sich von Neuem zu schlagen gedenkt etc. Dieser Punkt muss vorzüglich im Auge behalten werden.

Indem nun in der Nacht die verschiedenen Kolonnen ihre Wege betreten, wird zugleich die Arrieregarde gebildet, deren Zusammensetzung sich jedesmal nach dem zu passierenden Terrain richten muss. In der Ebene wird der größte Teil aus Kavallerie bestehen, durch reitende Artillerie unterstützt; im durchschnittenen Boden besteht die größere Anzahl aus Infanterie und einigen schweren Feldstücken; die leichten Truppen decken die Flanken, und klären den Marsch der Kolonnen auf. Die Arrieregarde marschiert etwa 1 bis 1½ Stunde hinter der Armee, und hält diese Entfernung beständig; lagert sich die Armee, so muss die Arrieregarde in einer starken, vorher ausgesuchten Stellung stehen, die nur auf wenigen Punkten zugänglich, und durch ein schwer zu umgehendes Défilé gedeck ist. Alle Seitenwege werden rekognosziert, und durch leichte Truppen mit der größten Sorgfalt beobachtet und besetzt.

Der Sieger, welcher die Nacht wahrscheinlich auf dem Schlachtfeld zugebracht hat, wird sich am anderen Morgen in Marsch setzen, und der Spur der Armee folgend, die Arrieregarde ungefähr auf zwei bis drei Stunden Weges antreffen, wo die Armee ausruht. Die ersten hier fallenden Kanonenschüsse sind für sie ein Zeichen zum Aufbruch, unterdessen die Arrieregarde die Straße und die Hauptausgänge mit ihrem Geschütz rein hält, mit ihren leichten Truppen die Défiléen verteidigt, und dem Feind kaltblütig die Stirn bietet, damit dieser gezwungen werde, sich zu entfalten, und Anordnungen zum nachdrücklicheren Angriff zu treffen. Allein sobald der Augenblick eintritt, wo sie mit Übermacht angefallen werden würde, tritt sie den Rückzug an. Zuerst zieht sich das erste Treffen und das schwere Feldgeschütz, dann das zweite Treffen ab; sie lässt auf den Höhen nichts stehen, als leichte Infanterie, Kavallerie und reitende Artillerie, welche sämtlich ebenfalls abziehen, sobald der Feind auf die Stellung losgeht.

Diese leichten Truppen, jederzeit auf 6 bis 8 hundert Schritt durch die Hauptkolonnen der Arrieregarde unterstützt, ziehen sich von Höhe zu Höhe, von Défilé zu Défilé, erspähen alle Mittel, um den Marsch des Feindes aufzuhalten, und greifen öfters selbst, bei günstiger Gelegenheit, die Spitzen seiner Kolonnen an. Dicht vor einem Défilé aber dürfen sie sich nie in ein ernsthaftes Gefecht einlassen, denn sie würden verloren sein, müssten sie es, zurückgeworfen, fliehend erreichen. Im Gegenteil ziehen sie sich fechtend in dasselbe zurück; dringt der Feind sogleich nach, so lassen sie einen Teil desselben durch, und gehen diesem dann mit aller Gewalt und Heftigkeit auf den Leib, wo oft sogar der Stärkere von dem Schwächeren besiegt werden kann.

Außer allem diesem wird der Feldherr keinen günstigen Augenblick vorüber gehen lassen, wo die Kräfte des nachfolgenden Feindes mit Vorteil abgestoßen werden können; aber diese Augenblicke wollen mit Klugheit erkannt, mit Kühnheit und Blitzesschnelle benutzt sein. Alle Arten von Kriegslisten, vorzüglich aber Hinterhalte, lassen sich hauptsächlich bei den Rückzügen anwenden, und um so mehr, je hitziger der Feind beim Verfolgen ist. Man wird daher suchen, den Feind öfters über unsere Stellung zu täuschen, und ihn listig, durch verstellte Bewegungen rückwärts, durch scheinbare Fehler, heimliche Gegenmärsche usw. von unseren wahren Absichten abzuleiten, um ihn in Défiléen zu locken, ihn auf den Flanken zu überfallen, seine Armee durch Schluchten und Flüsse zu teilen, und ihn einzeln zu schlagen.

Die zweite Art von Rückzügen, wozu man durch andere Umstände, als durch eine verlorene Schlacht, veranlasst werden kann, hat notwendig einen ganz anderen Charakter, als die erste Art; denn die Armee ist durch keine Gefechte erschüttert, und durch keine Niederlage entmutigt. Die Absicht des nachdringenden Feindes kann hier zweierlei sein; entweder will er einzelne Teile der Armee nach und nach von ihr abreißen und verderben, sie daher zu schwächen suchen; oder er will dahin wirken, unsere Armee früher und auf einem solchen Punkt zum Schlagen zu zwingen, der nicht mit unserem Plan übereinstimmt, oder ihm gar nicht angemessen ist, vielmehr dem Feind einen überwiegenden Vorteil gewährt. In beiden Fällen wird es am besten sein, früher als es der Feind vermutet, und bei einer für ihn ungünstigen Gelegenheit, plötzlich Front zu machen, indem man den größten Teil seiner Kräfte beisammen hat; man greift ihn mit Ungestüm und Überlegenheit an, wirft die eine seiner Kolonnen auf die andere zurück, sucht seine verschiedenen Armeekorps zu trennen, und bereitet ihm so auf eine überraschende Weise selbst den Untergang, den er uns zugedacht hatte.

Was das Verhalten der einzelnen Truppengattungen bei dem Rückzug betrifft, so ist es ganz das bei der Verteidigung im offenen Gefecht gewöhnliche. Im coupierten Terrain wird die Infanterie die Hauptwaffe sein; sie ficht hier in zerstreuter Ordnung, und verlässt sich, bei einem plötzlichen Vordringen des Feindes mit Übermacht, auf ihre geschlossenen Soutiens, auf die sich sich rasch zurückzieht. In der Ebene spielt die Kavallerie die Hauptrolle, und flankiert gegen den Feind, auf den sich sich in günstigen Augenblicken, mit plötzlich zusammengerafften Massen stürzt, um ihn schüchterner beim Vordringen zu machen. Die Artillerie spielt bei dem Rückzug in beiden Arten des Terrains, auf dem Schlachtfeld selbst, eine gleich wichtige Rolle; doch hat sie bei der Arrieregarde kein eigentümliches Gefecht, weil sie hier zu sehr von den anderen Truppengattungen abhängt.

Wenn die Artillerie zur Deckung des Rückzuges gebraucht wird, so muss sie ihrer Bewegungen und Aufstellungen mehr nach denen der übrigen Truppen richten, so dass es ihr weniger möglich ist, alle Terrainvorteile in Hinsicht ihrer Wirkung oder Deckung zu benutzen, weil teils die unmittelbare Beschützung jener Truppen hier der Hauptzweck ist, teils die Artillerie selbst nicht ohne Gefahr sich weit von ihnen entfernen darf. Im Allgemeinen ist das wirksamste Mittel, welches die Artillerie anwenden kann, um das heftige Nachdringen des Feindes möglichst abzuhalten, dass immer einige Geschütze feuern, oder doch dazu bereit stehen, während sich die übrigen Truppen zurückbewegen, so lange nicht die zu große Entfernung des Feindes das Einstellen des Feuers erlaubt. Deshalb ist es notwenig, einen dem vorhandenen Terrain, und der Geschützzahl des Ganzen angemessenen Teil der Arrieregarde zu bestimmen, welcher diesen Zweck erfüllen kann. Unter dem Schutz desselben muss die übrige Artillerie einen Terrainabschnitt zu gewinnen suchen, wo sie eine neue Aufstellung nehmen kann, um das Zurückgehen des vorher stehen gebliebenen Truppenteils zu decken. Auf diese Art ist es allein möglich, dem Feind jeden Schritt vorwärts streitig zu machen. Sehr häufig trifft es sich herbei, dass das zurückgehende Korps sich nur auf einer Straße bewegen kann, und hierdurch der Marsch desselben, und namentlich der Artillerie, erschwert oder doch verzögert wird. Um die dabei entstehenden Hindernisse möglichst zu beseitigen, müssen die schweren Batterien zuerst zurückgeschickt werden, und eine neue Stellung nehmen. Die übrigen folgen erst dann, wenn diese durch jene Aufstellung mit Sicherheit geschehen kann. Die reitenden Batterien werden teils unmittelbar zur Arrieregarde verwendet, wo ihre leichtere Beweglichkeit von besonderem Nutzen ist, teils können sie unter günstigen Umständen in ein Versteck gelegt werden, um den Feind unerwartet in der Flanke und im Rücken anzugreifen, wodurch er vielleicht einen so empfindlichen Verlust erleidet, dass er auf längere Zeit die nachdrückliche Verfolgung aufgeben muss. In einem sehr durchschnittenen Terrain, durch welches der Rückzug gemacht werden muss, würde die reitende Artillerie weniger nützen; sie legt dasselbe daher früher zurück, und kann mit der Kavallerie auf der nächsten Ebene aufgestellt werden, um die Truppen aufzunehmen.

Quelle: Rumpf, H. F.: Allgemeine Real-Encyclopädie der gesammten Kriegskunst (Berl. 1827)

Rückzug, rückgängige Bewegung einer Truppe vor dem Feinde, erfolgt nach unmittelbarer Berührung mit dem Feind, um sich der Übermacht desselben zu entziehen, entweder freiwillig oder durch den Gegner erzwungen. Der freiwillige Rückzug kann mit Ordnung geschehen. Die Maßnahmen auf dem Gefechts- oder Schlachtfeld (die taktischen Anordnungen) betreffen den Abzug der Truppen unter dem Schutze starker Artillerie- und Kavallerieentwicklung, und Beziehen einer Aufnahmestellung rückwärts-seitwärts durch möglichst frische Arrieregardentruppen, um den Angriff des verfolgenden Feindes abzuwehren.

Der ungestörte Abzug wird erleichtert, wenn die Rückzugsstraßen (die Rückzugslinie) Deckung bieten, z. B. in Wäldern, oder wenn der Rückzug durch den Wirkungsbereich einer befreundeten Festung führt; er kann gefährdet werden, wenn er durch Engwege geht, z. B. über Brücken. Das Freihalten der einzuschlagenden Wege ist aber besonders wichtig. Darum werden Bagage, Trains und Kolonnen rechtzeitig weit zurückgeschickt, Verpflegung zu späterem Empfang durch die zurückgehenden Truppen an den Marschstraßen niedergelegt. Schwierige Wegestellen, z. B. Brücken, werden gangbar gemacht, an diesen und an Wegekreuzen Offiziere etc. aufgestellt, die für Ordnung und Einhaltung des rechten Weges, besonders bei Nacht, sorgen. Die Lage der Rückzugslinie zur Schlachtlinie ist für den Rückzug am vorteilhaftesten, wenn sie senkrecht zu ihr läuft. Oft geschieht der Rückzug im Schutze der Nacht. Besonders wünschenswert ist Benutzung der Eisenbahn für den Rückmarsch, zumal der Infanterie.

Grundsätzlich werden die Rückzugsanordnungen nur den nächsten Stellen im voraus und vertraulich bekannt gemacht. Der strategische Rückzug, die rückgängige Bewegung eines Heeres, bezweckt die Verlegung der Operationen auf einen anderen Kriegsschauplatz. Dem geordneten Rückzug steht gegenüber der durch den Feind erzwungene, bei dem das Loslösen vom Gegner, das Einfädeln der Truppen in Marschkolonnen und das Wiedergewinnen der völligen Operationsfreiheit schwere Aufgaben der Führung bilden, die bei energischer Verfolgung durch den Feind zunächst nicht lösbar sind.

Auf dem Schlachtfelde wie auf dem weiteren Rückzuge sind Kämpfe, Rückzugsgefechte (s. Arrieregarde), zu bestehen, die Truppen können von der Rückzugslinie abgedrängt werden, und große Verluste sind unvermeidlich; der schlimmste Feind einer solchen Kriegslage aber ist die Entmutigung, die sich der Truppe bemächtigt und verderblicher wirkt als alle Verluste. Hier bewähren sich das Talent der Führer und die Mannszucht der Soldaten. Exzentrisch ist der Rückzug, wenn Teile eines Heeres oder wenn getrennte Heereskörper auseinandergehende Rückzugslinien, konzentrisch dagegen, wenn getrennt operierende Armeen zusammenführende Rückzugslinien einschlagen. Der in Unordnung ausgeführte Rückzug hieß früher Retirade (s. Flucht).

Bibliographie

  • Balck: Taktik (Berl. 1903, 6 Bde. in 2. und 3. Auflage)
  • Schlichting, v.: Taktische und strategische Grundsätze der Gegenwart (Berl. 1897–99, 3 Tle.)

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909

Glossar militärischer Begriffe