Riga

Riga, Hauptstadt des [ehem.] russischen Gouvernements Livland, seit 21. August 1991 Hauptstadt des wieder unabhängigen Lettlands, an beiden Ufern der Düna, über die eine 250 m lange Schiffbrücke und eine Eisenbahnbrücke führen, liegt 11 km von ihrer Mündung in den Rigaer Busen und an den Eisenbahnlinien Riga–Orel, Riga–Petersburg, Riga–Tukkum, Riga–Mitau und den Zweiglinien nach Bolderaa (Dünamünde) und Mühlgraben.
Riga ist nach Petersburg und Odessa die wichtigste Seehandelsstadt Russlands. Sie besteht aus der Altstadt, der Petersburger und Moskauer Vorstadt auf dem rechten Flussufer und der Mitauer Vorstadt, die auf dem linken Flussufer und mehreren Inseln (Holme) liegt. Die Altstadt ist reich an historischen Bauten, hat aber enge und winklige Straßen; in ihr konzentriert sich das eigentliche Geschäftsleben. Die seit 1856 niedergelegten Wälle sind in schöne Boulevards verwandelt (Thronfolger-, Alexander-, Todlebenboulevard), die mit den geschmackvollen Gartenanlagen (Wöhrmannscher Park, Schützengarten etc.) den schönsten Teil der Stadt bilden. Die noch immer mächtig sich ausdehnenden, mit breiten Straßen ausgestatteten Vorstädte sind der Schauplatz des industriellen Lebens. Riga hat zehn evangelische, eine reformierte, eine anglikanische, zwei römisch-katholische, 14 griechisch-orthodoxe Kirchen nebst zwei Klöstern und zwei Synagogen. Unter den historisch interessanten Kirchen der Altstadt sind zu nennen: die Dom- oder Marienkirche (1215–26 erbaut, mit bemerkenswerten, 1893 renovierten Kreuzgängen), die Petrikirche (1209 in Holz, 1408–66 in Stein erbaut, mit 115 m hohem Turm), die 1226 erbaute Jakobikirche, die lettische Johanniskirche, die Gertrudkirche, an der J. G. Herder wirkte, u. a. Von den griechisch-orthodoxen Kirchen nennen wir die 1877–84 erbaute schöne Kathedrale, die Alexeikirche aus dem 18. Jahrhundert und die Alexander-Newskikirche. Unter den Profanbauten verdienen Erwähnung: das 1494–1515 erbaute Schloss (einst Residenz der Großmeister in Livland, jetzt Sitz des Zivilgouverneurs), davor die 8 m hohe Siegessäule aus Granit mit einer bronzenen Viktoriastatue und goldener Krone (zur Erinnerung an die Kriegsjahre 1812–15 errichtet); ferner das 1864–66 in florentinischer Renaissance umgebaute Ritterhaus mit einem Saal, der die Wappenschilde sämtlicher adliger Familien des Landes enthält; das 1330–34 erbaute Schwarzhäupterhaus (jetzt Klub der jungen Kaufleute), die schönen Gebäude der Großen (St. Marien-) und der Kleinen (St. Johannis-) Gilde, das Rathaus (mit dem städtischen Archiv und der Stadtbibliothek), die Börse, das Zollhaus, das Seemannshaus, das 1860–63 erbaute, schöne deutsche Theater, das zweite (russische) Stadttheater, das Polytechnikum etc.
Die Zahl der Einwohner betrug 1897: 256.197 (einschließlich Patrimonialgebiet), von denen ca. 46 Proz. Deutsche, 20 Proz. Russen, 20 Proz. Letten sind; den Rest bilden Esthen und andere Nationalitäten. Der Konfession nach sind 64 Proz. Lutheraner und Reformierte, 18 Proz. Griechisch-Orthodoxe (inkl. Sekten), 6 Proz. Römisch-Katholische, 12 Proz. Juden. Die Industrie hat sich seit 1895 mächtig gehoben, so dass Riga gegenwärtig auch industriell eine der bedeutendsten Städte Russlands ist. Man zählte 1900: 356 Fabriken mit 42.274 Arbeitern und 67,25 Mill. Rubel Produktionswert. Vertreten sind fast alle Industriezweige; besondere Erwähnung verdienen zwei große Waggonfabriken, die elektrotechnische Fabrik der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, zahlreiche Metallwaren- und Maschinenfabriken, chemische Fabriken, eine Anzahl großer Sägemühlen, Tabak- und Zigarrenfabriken, zahlreiche Bierbrauereien, eine große Gummiwarenfabrik u. a.
Unter den Ausfuhrartikeln stehen an erster Stelle Butter (1903 im Spezialhandel für 12,2 Mill. Rubel), Eier (15,6 Mill. Rubel), Getreide (4,4 Mill. Rubel), Ölkuchen (2,5 Mill. Rubel), Wild und Geflügel (1,8 Mill. Rubel), Flachs (18,5 Mill. Rubel), Holz (15,4 Mill. Rubel), ferner Leinsaat, Hanf, Häute und Felle. In der Einfuhr (Spezialhandel) standen 1903 an erster Stelle Tee (14,6 Mill. Rubel), Rohbaumwolle (7,9 Mill. Rubel), Heringe, Gummi und Kautschuk, Jute, Steinkohlen, Korkholz, Metalle und Maschinen, Farben und künstliche Dungmittel. Der Schiffsverkehr ergab 1903 im Eingang 3499 Schiffe mit 1.311.433 Reg.-Ton., wovon aus dem Ausland 1714 Schiffe mit 1.091.226 Reg.-Ton. (davon 304 Schiffe mit 143.601 Reg.-Ton. unter russischer Flagge); im Ausgang 3519 Schiffe mit 1.326.977 Reg.-Ton., von denen 1715 mit 1.116.551 Reg.-Ton. ins Ausland bestimmt waren. Riga steht mit Stettin, Lübeck, Bremen, Hamburg, Köln am Rhein, Stockholm, Kopenhagen, Rotterdam, Antwerpen, Rouen, Hull, Leith, Dundee sowie mit St. Petersburg, Libau, Odessa und anderen russischen Häfen in regelmäßiger Dampferverbindung. Den Interessen des Handels dienen ein Zollamt erster Klasse, ein Elevator, eine Kühlhalle für Butter, Wild und Geflügel; auch hat Riga ein ansehnliches eigenes Reedereigeschäft. Die hauptsächlichsten Banken sind: das Kontor der Reichsbank, die Rigaer Börsenbank, die Rigaer Kommerzbank, die Stadtdiskontobank, drei Banken für gegenseitigen Kredit. Von Unterrichtsanstalten bestanden in Riga 1904: ein Polytechnikum (mit sechs Fakultäten, darunter solchen für Ackerbau und Handelswissenschaften), vier Gymnasien für Knaben und zwei für Mädchen, zwei Realschulen, ein geistliches Seminar und eine griechisch-orthodoxe Pfarrschule, ein Lehrerseminar, eine Navigations-, eine Handwerkerschule und eine Taubstummenanstalt; ferner eine Stadtbibliothek und drei andere öffentliche Bibliotheken, das Dommuseum (Museen der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen und des Naturforschervereins), eine städtische und zwei andere Gemäldegalerien, acht öffentliche Krankenanstalten. An Zeitschriften erschienen 1904: 56, davon 20 in deutscher (darunter drei Tageszeitungen), 15 in lettischer, eine in esthnischer und 20 in russischer Sprache. Die Zahl der Einrichtungen und Vereine für Wissenschaft, Kunst und Geselligkeit ist sehr bedeutend. Riga hat eine elektrische Straßenbahn und zahlreiche Dampferlinien auf der Düna, welche die Verbindung mit den Vororten aufrecht erhalten. In früherer Zeit (bis 1856) Festung ersten Ranges, ist Riga Sitz des livländischen Gouverneurs, des 20. Armeekorpskommandos, des griechisch-orthodoxen Erzbischofs von Riga und Mitau, des Kurators des Rigaischen Lehrbezirks, mehrerer Konsuln (darunter eines deutschen Generalkonsuls). Seit 1878 ist die städtische Verwaltung dem Rat entzogen und die russische Städteordnung (mit Stadtamt und Stadtverordnetenversammlung) eingeführt. 1889 bei Einführung der russischen Gerichtsverfassung löste sich der Rat auf.
Riga wurde 1201 von Albrecht I. von Buxhöwden, Bischof von Riga, gegründet, der 1202 seinen Sitz hierher verlegte. 1253 erhob Papst Innozenz IV. Riga zum Sitz eines Erzbistums. Riga blühte rasch auf und war eine wichtige Hansestadt. Es spielte in den Kämpfen zwischen dem Deutschorden und dem Erzbischof oft eine entscheidende Rolle. Die Reformation fand schon 1522 durch Knöpken, Bugenhagens Freund, in Riga Eingang, doch das Erzbistum wurde erst 1566 aufgehoben. Als Livland 1561 polnische Provinz wurde, erhielt sich Riga noch bis 1582 in bedingter Unabhängigkeit. Mit dem neuen Kalender versuchte Stephan Bathori den Jesuiten Eingang in die Stadt zu verschaffen, nicht ohne Erfolg. 1621 wurde Riga von Gustav Adolf erobert und von den Jesuiten befreit. 1656 wurde Riga von den Russen vergeblich belagert, desgleichen 1700 von den Sachsen dank der tapferen Verteidigung durch den schwedischen Statthalter Dahlberg. Doch 4. Juli 1710, nach der Niederlage Karls XII. bei Poltawa, ergab sich die Stadt nach hartnäckiger Verteidigung dem Feldmarschall Scheremetjew und kam unter russische Botmäßigkeit. 1812 wurde Riga von den Preußen unter Graevert bedroht, die Vorstädte wurden vom Kommandanten v. Essen verbrannt; 1814 richtete der Eisgang großen Schaden an. Überhaupt ist die äußere Stadt infolge ihrer niedrigen Lage Überschwemmungen ausgesetzt. Im Frühjahr 1854 wurde Riga von den Engländern blockiert; 1856 fielen die Festungswerke, und es entstanden an ihrer Stelle schöne Boulevards und Anlagen. 1889 wurde die russische Sprache in Gericht, Verwaltung und Schule gewaltsam eingeführt, die 700jährige Verfassung war schon 1878 durch die russische Städteordnung ersetzt. Seitdem hat Handel und Industrie stark zugenommen, das höhere und niedere Schulwesen ist aber durch die Russifizierung fast bis zur Vernichtung geschädigt. Immer stärker breitete sich durch russische Beamte, Polytechniker und Arbeiter der früher dort unbekannte Nihilismus aus, bis im Laufe des Jahres 1905 die Regierung alle Autorität einbüßte. Auch der Kriegszustand minderte die Unsicherheit von Person und Eigentum erst 1906.
Militär
- Riga Garnison-Regiment
- Riga Infanterieregiment, 23. Division, IV. Corps, 1812
- Riga Dragonerregiment
Bibliographie
- »Führer durch das industrielle Riga« (Riga 1901)
- »Riga und seine Bauten« (Riga 1903)
- Buchholtz und Bulmerincq: Aktenstücke und Urkunden zur Geschichte der Stadt Riga 1710–1740 (Riga 1902 bis 1906, 3 Bde.)
- Bulmerincq, A. v.: Der Ursprung der Stadtverfassung Rigas (Riga 1894)
- Bulmerincq, A. v.: Die Verfassung der Stadt Riga im ersten Jahrhundert der Stadt (Riga 1898)
- Bunge: Die Stadt Riga im 13. und 14. Jahrhundert (Leipz. 1878)
- Carlberg: Der Stadt Riga Verwaltung und Haushalt 1878–1900 (Riga 1901)
- Mettig: Geschichte der Stadt Riga (Riga 1897)
- Mettig: Illustrierter Führer durch Riga (6. Aufl., Riga 1906)
- Neumann, W.: Das mittelalterliche Riga (mit 26 Tafeln, Berl. 1892)
- Tobien: Ergebnisse der Rigaer Handelsstatistik 1866–1891 (Riga 1893) und 1891–1898 (Riga 1900)
- Tobien: Das Armenwesen der Stadt Riga (Riga 1895)
Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage 1905–1909