Augenmaß

Distanzschätzen durch Augenmaß.

Augenmaß, wird in das geometrische und militärische eingeteilt. Unter dem ersten versteht man die Schätzung der Größe und Entfernung, Winkel, Fläche, usw. nach dem Augenscheine, mit Zuziehung geometrischer Sätze; das letztere (Coup d’œil militaire) ist ein Talent, das dem Soldaten von der Natur gegeben sein muss, das man aber durch Übung mehr ausbilden kann. Es besteht in der Fertigkeit, die Vorteile und Nachteile eines Terrains in Hinsicht auf Stellung und Bewegung in Geschwindigkeit zu übersehen, die gegebenen Blößen des Feindes sogleich wahrzunehmen, und sie in demselben Augenblick zu benutzen; die feindlichen Maßregeln durch rasche, zweckmäßige und erst auf dem Schlachtfelde gefasste Entschlüsse, zu vereiteln, kurz in der Fertigkeit, augenblicklich zweckmäßige Dispositionen während des Gefechts zu machen und auszuführen, und die schon früher gemachten Dispositionen, nach den sich ereignenden unvorhergesehenen Umständen, auf dem Schlachtfelde zu unserem Vorteil in neue umzuändern.

Zu dem geometrischen Augenmaß führt die Bekanntschaft und Übung einiger Lehren der Optik oder Sehkunst.

Sehen ist eine Empfindung im Auge, welche durch die von leuchtenden oder beleuchteten Gegenständen ausströmenden, und zurückprallenden Lichtstrahlen verursacht wird, die im Auge wie in einem Spiegel, ein Bild darstellen, welches dem Objekte ähnlich ist, das wir ansehen. Die Deutlichkeit des Sehens bei einem gesunden Auge beruht auf der Menge der Lichtstrahlen, die vom leuchtenden oder beleuchteten Objekt auf dasselbe fallen; je geringer die Menge dieser Lichtstrahlen ist, desto dunkler erscheint der Gegenstand, weil erstere durch die Luft, auf welchem Wege sie nur zu dem Auge des Beobachters kommen können, geschwächt werden. Daher sehen entfernte Gegenstände dunkler, also auch kleiner aus, als nähere. Von diesen Merkmalen, welche einen Vergleich zulassen, geleitet, schließt man auf die Entfernung der Objekte; mit der Stärke der Farbe verhält es sich eben so. Hierbei hat aber nicht nur die Beschaffenheit der Luft, ob sie entweder rein, oder trübe ist, sondern auch die Güte des Auges selbst den größten Einfluss; bei trüber Luft sieht man einen entfernten Gegenstand entweder gar nicht, oder in veränderter Gestalt und Lage, wegen der größeren oder geringeren Brechung der Lichtstrahlen (Refraktion).

Den Begriff vom Abstand, oder der Entfernung eines Gegenstandes vom Auge, und mehrerer Gegenstände von einander durch das bloße Anschauen, bekommt man erste durch gewisse Übungen, und anfänglich durch Hilfe des Gefühls. So machen entfernte Gegenstände einen anderen Eindruck auf das Auge, als nahe; aber aus diesem Eindrucke kann man ihre Entfernung nicht angeben, sondern das Mittel dazu liegt im Vergleich der Bewegung teils der beobachteten Gegenstände, teils des Beobachters, oder beider zugleich, so wie der während der Bewegung verflossenen Zeit, und der erlangten Geschwindigkeit. Man muss also gewisse Erfahrungssätze kennen, um Entfernungen zu schätzen; allein da die Augen der Beobachter verschieden sind, so muss sich jeder hierzu, nach der Beschaffenheit seiner Augen, einen eigenen Maßstab bilden.

Ebenen mit einerlei, besonders niedrigen Gegenständen, Gras und dergleichen bewachsen, lassen keine richtige Schätzung zu, weil man keinen Ruhepunkt, folglich auch keinen Maßstab fürs Auge darauf findet; eben so ist es mit der Beurteilung der Breite eines Stroms, wenn das Wasser keine merkliche Bewegung zeigt, oder sich keine Zwischenpunkte auf demselben finden. Ein Hilfsmittel für Militär, um Entfernungen zu schätzen, findet sich im Glanze der Waffen, in den Farben der Montierungsstücke usw.; um hierbei für sein Auge eine richtige Tabelle zu erhalten, muss man die Entfernungen, in welchen dem Auge ein Gegenstand auf diese oder jene Art erscheint, wirklich wissen, und diese Untersuchungen zu allen Tageszeiten, unter allen Beschaffenheiten der Luft, und nach allen Weltgegenden hin, aufstellen.

Aus der Perspektive ergibt sich, dass zwei parallel laufende Linien sich in der Ferne einander zu nähern, am Ende ganz zu vereinigen scheinen; eine lange Allee, mit parallelen Seiten, scheint sich endlich zusammen zu ziehen, und daher kürzer zu sein, als sie wirklich ist. Eben so scheinen auch die Gipfel der Berge näher, und ihr Böschungswinkel größer zu sein, wenn man beide von vorne betrachtet; sieht man sie darauf von der Seite and, so erkennt man seinen Irrtum, indem nun ein Winkel, der früher 60 bis 80 Grad zu haben schien, kaum als einer von 20 bis 30 Grad erscheint. Ein kleines, vom Auge nicht weit entferntes Objekt, deckt auf Ebenen, und bei geringen Entfernungen, ein größeres und weiter entferntes entweder ganz oder zum Teil; auf unebenem Terrain und in großen Entfernungen hebt sich das Decken, entweder gänzlich oder zum Teil, auf.

Scheinen zwei oder mehrere Objekte in der Entfernung Eins zu sein, so kann der Irrtum dadurch entdeckt werden, dass der Beobachter seinen Standort verändert, und ihn so zur Seite zu nehmen sucht, dass er zwischen den Objekten hindurch sehen kann. Hieraus folgt für das Rekognoszieren und Aufnehmen die Regel, dass man wo möglich alle Objekte von mehreren Seiten betrachten muss, und der Schluss: Wenn zwei Gegenstände von ungleicher Größe und in verschiedener Entfernung vom Auge, gleich groß erscheinen, oder einander decken, so verhalten sich ihre Größen zu einander, wie ihre Distanzen vom Auge, und so auch umgekehrt. Deckt also z. B. ein Bataillon zwei andere eben so starke vollkommen, so ist die Entfernung des ersteren nur halb so groß, als die der letzteren vom Auge; kennt man die Entfernung des deckenden Gegenstandes, und weiß, dass es ein Bataillon ist, so weiß man auch, dass der gedeckte Truppenhaufen eine Breite von 2 Bataillonen hat.

Steht das Auge vor zwei Bergen von gleicher Höhe, aber von ungleichen Entfernungen, doch so, dass sie sich nicht decken, so scheint der nähere höher zu sein, als der hintere, wenn er auch wirklich niedriger ist; um die Höhe beider richtig zu vergleichen, muss man sich so stellen, dass man vor beiden in der Mitte steht. – Von dem Gipfel eines Berges, vom Saum etwas zurückgezogen, kann man einen in der Tiefe stehenden Feind bis zum Fuß entdecken; dieser aber sieht nur einen Teil, und zwar den oberen, von dem Beobachter auf dem Gipfel. –

Bewegt sich ein nahes Objekt von einem Ort zum anderen, so scheint dessen Bewegung schneller, als die eines anderen entfernten Objektes zu sein, wenn sich dasselbe auch mit der nämlichen Geschwindigkeit in derselben Zeit bewegt. Je weiter ein Gegenstand entfernt ist, desto langsamer erscheint seine Bewegung, bis sie endlich in der größten Weite ganz aufzuhören scheint; die Täuschung wird noch größer, wenn sich auch der Beobachter dazu bewegt.

Die vorzüglichste Fertigkeit, welche der Militär vom Augenmaße verlangt, besteht in der Schätzung der Distanz, und man kann es hierin ziemlich weit bringen. Sehr große Entfernungen schätzt man durch ein Hilfsmittel, welches die Erfahrung gibt, nämlich dass man einen Gegenstand, der um 6000 Mal der Größe seines längsten Durchmessers entfernt ist, mit einem gesunden aber unbewaffneten Auge nicht mehr sieht; hieraus lässt sich wenigstens auf die Entfernung, in der man ihn noch erblickt, schließen. Sieht man z. B. an einem entfernten Hause die Fenster desselben, welche 5 Fuß hoch sind (also von gewöhnlicher Höhe) kaum noch als einen Punkt, so kann man schließen, dass man 6000 Mal 5 Fuß, also 12.000 Schritt ungefähr, vom Hause entfernt sei.

Jede Linie, sie sei gerade oder krumm, schätzt man richtiger, wenn man so vor die Linie tritt, dass das Auge die Spitze eines Dreiecks wird, von welchem die zu bestimmende Linie die Basis ist; so schätzt man z. B. die Länge eines Bataillons richtiger, als wenn man von einem Flügel aus die Front hinunter sieht. Weiß man sich so zu stellen, dass das Dreieck gleichseitig wird, und man kennt vielleicht aus anderen Umständen eine Seite, so sind die übrigen, also auch die gesuchte Länge bekannt.

Eine andere Fertigkeit ist das Schätzen der Winkel, sowohl in horizontaler als vertikaler Lage; die Übung darin kann man teils auf dem Papier durch den Transporteur, teils auf dem Felde durch das Astrolabium und die Boussole vornehmen. Die Vertikalwinkel und die Böschungswinkel schiefer Flächen sind schwieriger zu schätzen, als die Horizontalwinkel auf ebenem Boden; am sichersten geschieht es aber, wenn man sie von der Seite ansieht. Die Übungen im Winkelschätzen fängt man mit dem rechten Winkel an; nach ihm sind die leichtesten die Winkel von 45 und von 60 Grad, indem man den rechten Winkel in 2 oder in 3 gleiche Teile zu zerlegen sich übt.

Eine aus der Erfahrung gezogene Tabelle für das Distanzschätzen, mit guten, gesunden, oder unbewaffneten Augen, ist folgende:

Über 2000 Schritt vom Feinde sieht man von seiner Infanterie nichts als dunkle Massen und das Blitzen der Gewehre im Sonnenschein; sieht man daher von ihr keine Rotten, so ist sie immer so weit, und weiter entfernt. Bei der Kavallerie unterscheidet man jedoch schon die Rotten, ohne bestimmt wahrzunehmen, dass es Leute zu Pferde sind.

Auf 1200 bis 15000 Schritt unterscheidet man erst bei der Infanterie die Rotten; bei der Kavallerie sieht man die Pferde noch nicht bestimmt, aber doch, dass die Leute zu Pferde sind.

Auf 1000 Schritt bemerkt man schon die Wendungen, die Bewegungen der Beine, und die Linie der Köpfe.

Auf 800 Schritt nimmt man den oberen Teil des Körpers und die Beine wahr.

Auf 600 Schritt sieht man den Kopf deutlich, oft auch dessen Bedeckung.

Auf 300 bis 400 Schritt fängt man an, die Treffen, die Farbe der Röcke, die Teilung der Lenden und das Gesicht wahrzunehmen.

Auf 100 Schritt unterscheidet man die Gesichter deutlicher, und auf 70 bis 80 Schritt erst die Augen als einen Punkt. – Daher erhält man mit Kartätschen gute Wirkung, sobald man den Kopf von dem übrigen Körper unterscheidet; mit Infanteriefeuer, wenn man die Gesichter des Feindes deutlich sieht; gegen Kavallerie muss man unter gewissen Umständen nicht eher Feuer geben, als bis man die Augen der Leute entdeckt.

Für den Jäger und Schützen kann bei der Beurteilung seiner Schussweiten folgendes gelten:

Auf 600 Schritt unterscheidet er den Kopf vom Körper; auf 500 Schritt sieht er schon, ob er einen Tschako, eine Bärenmütze oder einen Hut, auch ob er einen Tornister hat; auf 400 Schritt nimmt er schon den Säbel des Infanteristen, und das weiße Lederzeug ganz deutlich wahr; auf 300 Schritt unterscheidet er die Farbe, jedoch nur unter gewissen Umständen; auch sieht er seine Hände und Füße; auf 200 Schritt sieht er die Knöpfe der Montierung ganz deutlich; auf 100 Schritt einen Schnurrbart im Gesicht, das Schloss am Gewehr, und die kleineren Bewegungen der Glieder; auf 70 bis 80 Schritt die Augen als einen Punkt, und auf 15 bis 20 Schritt erst das Weiße in denselben.

Eine andere Art, Distanzen zu schätzen, geschieht mit dem Mikrometer.

Quelle: Rumpf, H. F.: Allgemeine Real-Encyclopädie der gesammten Kriegskunst (Berl. 1827)

Glossar militärischer Begriffe